Nachtisch im Affenkäfig
Uraufführung im Klever XOX-Theater
von Andreas Daams
Ute Bergiens Stück „Hotel im Meer“ mit dem Untertitel „Ein Menü in drei Gängen“ ist keine leichte Kost. Es spielt in einem Restaurant irgendwo im Nirgendwo, an einem jener uralten Theaterorte zwischen Diesseits und Jenseits, heute und gestern, Mensch und Monster. Im Klever XOX-Theater hatte Regisseur Wolfgang Paterok zur Uraufführung einen zeitlos-windschiefen Speisesaal auf die Bühne gehoben. Das Zuschauen machte Lust: nicht aufs Essen, sondern aufs Zerfleischen. Davon soll noch die Rede sein. Die Handlung: Zwei einander unbekannte Ehepaare essen miteinander zu Abend. Ihre Konversation erschöpft sich in Plat-titüden, die sich mitunter taumelnd ins Gegenteil verkehren.Das ist der Teil des Stückes, in dem das Publikum über das verschüchterte Ehe-paar Ost und das an seiner eigenen Gut-situiertheit berauschte Ehepaar West noch lachen kann. Denn noch halten die Herrenmenschen ihre Ostdeutschen („wie Neger, nur nicht schwarz“) dazu an, bald mehr zu trinken, bald weniger, erst gefälligst mir den Fingern zu essen, dann jedoch mit dem Fischbesteck. In der evolutionär fortgeschrittenen Welt Pöseldorfs (der Herkunft des Westpaars) fährt man im Frühjahr nach Paris und im Herbst nach Berlin, trifft seinesgleichen an der Champagnerbar des KDW und beherrscht ansonsten ein ganzes ABC an Beschimpfungen, von anmaßend bis zeitraubend. Aber da sind wir schon beim Zerfleischen. Denn die Tyrannei gewinnt an Fahrt. Ehepaar Ost soll sich ausziehen – „Alle wollen Sie nackt sehen!“, schreit die Westdame und bezieht mit einer Handbewegung das Publikum mit ein. Das ist jetzt totenstill. Kein Lachen mehr. Zuletzt findet sich Ehepaar Ost im Holzkäfig wieder, wird vom Ober mit Nachtisch vol-gestopft und von der Westgattin mit Bana-nen beworfen. Die Rechnung bezahlt man in diesem Hotel mit dem Leben.
Ute Bergien, Jahrgang 1965, hat mit ihrer Versuchsanordnung einen Bogen geschlagen von der Groteske über Satire bis hin zum gesellschaftskritischen Zeitstück. Das Ensemble des XOX-Theaters war von Anfang bis Ende beeindruckend. Dagmar Fischer und Gerd Walther geben das devote Ost-Ehepaar, das sich kaum gegen die Zumutungen zur Wehr setzt. Klaus Gerritzen läuft als überheblicher Widerling zu großer Form auf. Wirklich fantastisch ist Agnes Bröker als Mittelstandsfurie, die mit erbarmungs-loser Konsequenz das Spiel weitertreibt. Peter Eckartz mimt den Maitre d’Hotel mit einer treffenden Mischung aus Arroganz und Servilität. Wolfgang Paterok hat das eineinhalbstündige Stück flott durchinszeniert. Es ist keine Sekunde langweilig. Aber es bleibt unversöhnlich. Mit Unbehagen verlässt man den Zuschauerraum. Gut, wenn Theater das schafft!
Absurdes im XOX-Theater
Wolfgang Paterok traute sich mit der Uraufführung von Ute Bergiens Hotel am Meer an schwere Kost – das absurd-abstruse Stück verlangte den Schauspielern des ambitionierten Laientheaters alles ab. Ein Lehrstück über Ost und West und die Abhängigkeit von Menschen.
VON MATTHIAS GRASS
Absurd: Da lassen sich Menschen freiwillig zum Narren machen, ordnen sich unter bis zur Selbstaufgabe. Da werfen andere Menschen ihre Zivilisation über Bord und mutieren zu faschistoiden Folterknechten, die auch noch von besserer Rasse faseln und von den anderen als „Neger – nur nicht schwarz“ reden. Ute Bergien serviert in ihrem Stück ein Menü in drei Gängen über menschliches Verhalten – „Hotel im Meer“ titelt das Stück, das im Klever XOX-Theater jetzt uraufgeführt wurde.
Stoff für den Restabend
Es ist hartes Stück, das Wolfgang Paterok oben in der alten XOX-Fabrik im kleinen Theater am lauen Samstagabend den Besuchern servierte. Ein Stück mit Diskussionstoff für den Restabend: Warum unterwirft sich das eine Pärchen aus „Nord-Nord-Ost“ (wunderbar verhuscht: Dagmar Fischer und Gerd Walther) im Hotel am Meer dem anderen Paar (herrisch-überheblich Agnes Bröker und Klaus Gerritzen) aus Süd-Süd-West? Nur weil es eingeladen ist? Weil die anderen vielleicht die Zeche bezahlen? Weil sie bestimmt Anweisungen geben, gegen die man sich nicht wehrt? Oder einfach, weil man wie immer das tut, was einem gesagt wird? Antworten gibt Bergien in ihrem Stück, das sich zunächst wie eine Parabel auf die Wiedervereinigung liest, nicht. Die muss der Besucher dann selber suchen. Gut so.
Da halten die Menschen aus Süd-Süd-West zum übertriebenen Wassertrinken an, was die anderen nicht kennen: „Wir trinken nicht zum Essen“, heißt es zaghaft. Nach der Anweisung: „Trinken Sie, es ist gesund, sonst trocknen sie aus“, trinken sie. Widersprüche werden im Keim erstickt oder gar nicht erst zugelassen. Nord-Nord-Ost versucht nicht einmal ernsthaft, sich zu wehren: „Essen Sie ohne Besteck!“ – „Aber sie essen ja mit den Fingern, nehmen sie kein Besteck?“, und so werden sie brutal vorgeführt, nachdem man zuvor brav Floskeln ausgetauscht hat. Das Stück eskaliert, wird abstrus-absurd. Das verhuschte Ost-Pärchen findet sich (fast) nackt und preisgegeben im Käfig. Sie werden mit Petit fours gestopft, erniedrigt, mit Bananen beworfen. Während ihre „Gastgeber“ hysterisch lachend ausflippen (großartig: Agnes Bröker) – und fürchterlich Angst im Dunkeln haben.
Es sei ein Spiel, sagt der Kellner. Ein Spiel von der Unterwerfung von Menschen, die sich anderen Menschen unterlegen fühlen, mehr als ein Stück Geschichte der Wiedervereinigung. Es ist ein ewiges Spiel, wie der Kellner (prima: Peter Eckartz) unmiss-verständlich klar macht – auch wenn am Ende des Stücks ein Pärchen aussteigen will.
Bergien serviert die Groteske in drei Gängen bis zum Nachtisch im Käfig. Paterok hat die Tische und Stühle des Restaurants für das schräge Menü auf schiefe, unsichere Ebenen gestellt. Alles kann kippen. Auch die Macht der Mächtigen wie sich am Ende herausstellt