Wie ein Hamster im Rad
Ausverkauft: Premiere von „Der Gott des Gemetzels“ fand großes Interesse
von Klaus Hübner
KLEVE Was schlummert unter’m schönen Schein? Des Bürgers wahre Seelenpein! Als Resümee der Premiere des Theaterstücks „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza im XOX-Theater durchaus geeignet, entblößt der Vers nur in Ansätzen die Maske bürgerlicher Verschleierungstaktiken. Götter sind alle Protagonisten auf ihrem kleingeistigen Fachgebiet: der Zyniker, die Moralistin, der Wichtigtuer, die Scheinheilige. Allegorisch gesagt: Das Böse offenbart sich in der Person eines Hamstermörders. Hinter der Mauer wohlanständigen Kleinbürgertums köchelt im Beziehungstopf der Ehepaare Houillé und Reille ein Sud ätzender, verletzender und hetzender Bösartigkeiten, die nur mühsam unter dem Siedepunkt gehalten werden. Ausgestattet mit einem Stock – nicht: bewaffnet.
Das ist zwar nur ein kleiner, aber elementarer Unterschied, der die Dimension der Auseinandersetzung unter Kindern definiert. Mit einem Stock ausgestattet, schlug Ferdinand, Sohn von Annette (Dagmar Fischer) und Alain Reille (Thomas Freiss), seinem Schulkameraden Bruno zwei Schneidezähne aus. Im Haus der Eltern Véronique (Agnes Bröker) und Michel Houillé (Ernst Hanßen) gerät der Versuch, die Angelegenheit gütlich zu bereinigen, zum entlarvenden Fiasko. Der anfänglich konforme Regelungswille bricht nach kleinen Sprachscharmützeln plötzlich in offene Feindschaft aus. Wobei die Parteienzugehörig-keit nicht immer klar zwischen den Paaren verläuft, sondern mehrere Seitenwechsel provoziert.
Versagensängste, Existenzängste, Angst vor der Bedeutungslosigkeit -das bürgerliche Milieu opfert seine Kleinwüchsigkeit auf dem Altar der Globalisierung. Wie Profitgier den Charakter versaut, erschließt sich in der nur über Handy geführten Nebenhandlung eines pharmazeutischen Skandals. Angesichts dieser Episode gerät der Hauptfilm, die Entschuldigungstour des Ehepaars Reille, zum bigotten Randereignis. Das Private ist nur noch Ausstattungsmittel für den großen Lebens- und Weltfriedensentwurf. Ob der Clafoutis (französisch: Obstkuchen) nun verdorben war oder nicht: die Spuckattacke von Annette auf ihren Mann Alain lässt sich auch als kleine Kriegserklärung interpretieren. Die sorgsam verborgenen Differenzen innerhalb der Paarbeziehungen werden immer deutlicher.
Immer wieder zeigt sich die überragende leienschauspielerische Fähigkeit des Quartetts, Stimmungsschwankungen und -brüche meisterhaft in Szene zu setzen. Ernst Hanßen in der Rolle des cholerischen Zynikers, Agnes Bröker als moralistische Gutmenschneurotikerin, Dagmar Fischer als schlummernder Unterwürfigkeitsvulkan, Thomas Freiss als familienabgewandter Prahlhans – eben noch Verbündete suchen sich neue Koalitionäre. Alle drehen sich wie ein hamster im Rad.
Abgründe mit Tiefgang
Die 82. Deutschlandpremiere im Klever XOX-Theater zeigt „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza.
Ein unterhaltsames Stück mit tragischem und bitterem Witz.
von Peter Grass
KLEVE Die Bühne zeigt die Welt auf dem Perserteppich, die Welt der Designersofas und der schmückenden Tulpen. Doch gerade hier spielen sich für die französische Schriftstellerin Yasmina Reza in dem Bühnenstück „Der Gott des Gemetzels“ die Abgründe des bürgerlichen Kleinidylls ab: Der eine Sohn schlägt dem anderen Sohn „bewaffnet“ – eine strittige Wortwahl für die beiden elterlichen Parteien – mit einem Stock bei einer Rauferei in der Schule zwei Zähne aus. Wie es sich nun für die zivilisierten Bürger gehört, treffen sich die jeweiligen Eltern, um den Vorfall zu klären.
Doch wie von Yasmina Reza nicht anders zu erwarten war, nimmt das Ganze einen grotesk-absurden Lauf. Mit diesem Stück erreicht sie momentan die höchsten Zuschauerzahlen des deutschen Bühnenvereins. Sie will dabei aber nicht dem Boulevardtheater, dem Nachhetzen nach dem schnellstmöglichen Witz, verfallen. Vielmehr sind ihre Figuren tiefgründiger und keineswegs eindimensional. Der zwar oft vorkommende Witz ist größtenteils tragisch bis bitterernst. Dies war wohl auch der Grund, warum Regisseur Wolfgang Paterok dieses Stück überhaupt erarbeiten ließ. „Hin zum Winter werden wir Sie mit dieser knalligen Komödie mit Tiefgang schon warm halten“, scherzte er über die zu erwartenden Tieftemperaturen im XOX-Theatersaal. Wichtiger sicherlich für die weiteren drei Vorführungen bis zum 5. Dezember.
In Rezas Stück wechseln wiederholt die Fronten. So stehen die Streitparteien in immer neuen Konstellationen auf der Bühne und untermalen die Meinungspositionen spielerisch. „Wenigstens lernen wir uns so einmal kennen“, versucht Vater Alain etwa, die Stille mit einem scheinbar belanglosen Satz zu brechen. Doch wie jede Äußerung wird auch diese bitterernst aufgegriffen: „Ich hätte mir gewünscht, dass mein Sohn dafür nicht zwei Zähne verlieren müsste“, erwidert Mutter Véronique. „Ja, so meinte ich es natürlich“, versucht Alain zu beschwichtigen. Doch hier fällt ihm seine eigene Frau in den Rücken: „Dann hättest Du Dich aber anders ausdrücken müssen.“ Zum Schluss liegen so nicht nur die Ehen zerbrochen da, sondern auch die Tulpen zerstreut und zertrampelt auf dem Perserteppich.