Familiäre Levitenlesestunde
Gut besuchte Premiere zur Eröffnung der elften Spielzeit des XOX-Theaters:
„Familienbande“ ohne inneren Halt.
von Klaus Hübner
KLEVE. Verwandte sehen viele Menschen lieber gehen als kommen. Geringste Kleinigkeiten treiben verdrängte Konflikte nach oben, Streit und Häme kennzeichnen die familiären Zusammenkünfte.
Soweit das Klischee. Das Ensemble des XOX-Theaters zeigte mit „Familienbande“ von Agnès Jaoui und Jean-Piere Bacri die tatsächlichen Verhältnisse innerhalb familiärer Clan-Treffen. Nämlich das Klischee.
Hackordnung steht zur Disposition
Weil Betty (Dagmar Fischer) nahe am Alkohol lebt und ein vulgäres Vokabular als einzige Verteidigungswaffe besitzt, ist sie das erste Ziel ihrer verwitweten Mutter (Agnes Bröker), die seit dem Tod des Ehemannes als Verdrängungskünstlerin ein Regiment aus mütterlichem Anspruchsdenken und blindem Wirklichkeitssinn führt.
Um sie herum die drei Kinder, Tochter Betty und die Söhne Henri (Thomas Freiss) und Philippe (Martin Kuhnen), dessen Frau Yolande (Gudrun Hütten) vom unterdrückten Mauerblümchen zum aufblühenden Rosenstrauch aufwächst.
Henri, der wieder sein „Freitagsjäckchen“ angezogen hat, ist ein nörgelnder Spießer, der sich darüber erregt, dass eine Weltklassetennisspielerin in Shorts ihrem Sport nachgeht. Ehefrau Arlette nahm sich nicht ohne Grund eine Auszeit von ihm.
Bruder Philippe, ein karrieresüchtiger Macho, kämpft mit den Nachwehen eines verpatzten TV-Auftritts. Betty, mit dem Barmann Denis (Klaus Gerritzen) in lockerer, geheimgehaltener Weise verbandelt, eckt mit ihrem lockeren Mundwerk überall an. Sie stellt die Hackordnung der Familie immer wieder zur Disposition, was besonders die Mutter in Rage bringt.
Eigentlich hat keines der Familienmitglieder ein Interesse daran, das Verwandtschaftspack zu treffen. Nur eine undefinierbare Pflicht hält sie dazu an, sich in der Kneipe des verstorbenen Vaters, die jetzt Sohn Henri führt, zu tref fen.
Es kommt nichts Gutes, schon gar nichts Herzliches dabei heraus, Macht- und Grabenkämpfe gestalten die Gefechtsordnung eines Familienkrieges ohne scharfe Waffen. Mit dem Abendessen im Duc de Bretagne wird es nichts an diesem Freitag, den Arlettes Eheflucht dominiert. Fast geht deswegen Yolandes Geburtstag unter, der eigentlich sowieso schon vergessen war. Als Notgeschenk bekommt sie einen Gutschein für einen Hund, dessen spätere Lähmung bereits feststeht. Ein ähnliches Exemplar liegt stumm und regungslos bereits hinter der Theke und gehört Henri.
Niemand bricht aus Klischee heraus
Festgefahren im Schlamm gegenseitigen Unverständnisses trottet die Familie weiter vor sich hin. Niemandem gelingt es, aus der fest im Klischee verankerten Rolle irgendwie auszubrechen. Nur Denis entpuppt sich als standfester Leuchtturm im Wellenbad der „Familienbande“, charakterfest, treu und mit trockenem Humor gesegnet.
Unter der Regie von Wolfgang Paterok zeigte das XOX-Theater eine reife, textsichere Leistung. Die überzeugend herausgearbeiteten Charaktere deuteten wenigstens mit einem Finger Richtung Publikum, wo vielleicht unter gelassener Oberfläche hier und da ähnliche durchschnittene Familienbande anzutreffen sind.
XOX-Theater überzeugt mit Familienbande
von Matthias Grass
KLEVE Die Kneipe ist ein bisschen heruntergekommen, abgegriffen. Alte Kunststoffsesselchen, eine Musicbox und die Theke. Darauf die polierte Zapfsäule, die Kellner Denis immer wieder seelenruhig wienert. Sie ist nämlich das Wichtigste an einer Kneipe, doziert er. Doch keiner hört ihm zu. Denn Zuhören – damit haben die Figuren auf der Bühne scheints Probleme. Am Schluss klingt „Una furtiva lacrima“ – und heimlich eine Träne – von Caruso über die Bühne. Dennoch ist das Ende des Dramas irgendwie versöhnlich…
„Familienbande“ heißt das Stück von Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri, das Wolfgang Paterok für sein Ensemble und die neue Saison ausgesucht hat und dessen Premiere kürzlich gefeiert wurde. Mitten in der französischen Provinz treffen sich die Mitglieder der Familie Menard immer Freitag abends in jener leicht angegriffenen Kneipe. Sie gehört Henri (Thomas Freiss), dem „Blödmann vom Dienst in der Familie“, wie er später feststellen wird. Daneben steht Philippe (Martin Kuhnen), Mamas Liebling und seine unheimlich verhuschte Ehefrau Yoyo (Gudrun Hütten). Bleibt die junge Betty (frech und aufbrausend: Dagmar Fischer) – der Revoluzzer der Familie, die dem überkommenen Frauenbild in der Familie nicht gerecht werden will.
Bleibt noch Mama: Als typische Familienmatrone mit Haaren auf den Zähnen Agnes Bröker. Im Sich und im Gestern verfangen ebenso wie in der Vergötterung des scheinbar erfolgreichen Philippe. Den Erfolgs-Yupie gibt wunderbar gegeelt Martin Kuhnen. Er schafft die ganze Palette vom erfolgreichen Geschäftsmann, der es ins Fernsehen geschafft hat, bis zur völlig konsternierten Nummer vier eines kleinen Unternehmens. In seinem Schlepptau Yolande – Gudrun Hütten als die ihren Mann vergötternde und die Familie erleidende Yoyo, die allerdings unter Bettys Einfluss und einigen „Picon“ es endlich wagt, gegen die Matrone Mutter aufzumucken, die ihr einen Hund zum Geburtstag schenkt. Einen Hund wie Caruso, der unsichtbar und gelähmt unterm Tresen liegt, um den sich alle mehr kümmern, als um ihr Gegenüber.
Schön, wie alle nebeneinander her und aneinander vorbei reden. Wie die wahren Probleme der Figuren nicht erkannt werden, letztlich dem scheint’s so ruhigen Denis der Kragen platzt und sich Arlette, die Frau Henris absetzt(sie gibt’s nur am Telefon). Eine rundum gelungene Familiensicht. Wie aus dem Leben gegriffen – in einer ebenso rundum gelungenen Inszenierung mit toller Ensembleleistung.